THEMENTAG: Entfremdung und Mut – Mut zur Befremdung?
Ort: LOFFT - DAS THEATER
Performances, Lecture-Performances, Impulsvorträge, Gespräche und Praxis-Workshops mit Philosoph*innen und Performer*innen aus Deutschland und Österreich – kuratiert vom Expedition Philosophie e.V. (Foto: © Austrian Science Fund (FWF): Grant-DOI: 10.55776/AR822)
Mit Marc Rölli (HGB Leipzig)
Von der Philosophie werden gerne Antworten verlangt auf grundsätzliche Fragen. „Entfremdung“ gilt als ein Signalwort für eine strukturell schwierig gewordene gesellschaftliche Situation, in der ein ›richtiges Leben im falschen‹ unmöglich geworden ist. Gerne wüssten wir, woran wir sind und woher unser Unbehagen kommt. Zugleich schwindet das Vertrauen darauf, überzeugende Antworten zu erhalten. Von einer fragmentierten Öffentlichkeit ist die Rede, die ihrerseits Indifferenz- und Isolationsphänomene produziert. Dabei zeigt sich, dass Entfremdung nichts ist, was ein für alle Mal überwunden werden kann. Weniger klar ist aber, was die Fremdheitserfahrung ausmacht – und wie mit ihr gut umzugehen wäre. Was muss eher akzeptiert, was sollte eher problematisiert oder verändert werden? „Auf befremdliche Weise ist d[ie] Fremde in uns selbst.“ (Julia Kristeva) Sie ist befremdlich, weil sie sich entzieht und darin ein Unvermögen spüren lässt. In ihr liegt eine Irritation, die imstande ist, Eigendynamiken zu unterbrechen. Was kann über sie darüber hinaus noch gesagt werden?
10:00-10:45 Uhr, Werkstattbühne
Mit baseCollective / Arno Böhler, Susanne Valerie Granzer, Evi Jägle, Christoph Müller (Wien)
Warum fragt man sich, warum braucht es Mut, die eigene Empfindungsfähigkeit zuzulassen? Warum macht uns die Aufforderung „Habe Mut, dich deines eigenen Gemüts zu bedienen!“ unwillkürlich misstrauisch? Warum wittern hier viele Gefahr? Dagegen nicht bei Kants Aufforderung: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Obwohl wir doch jede Situation, in der wir uns befinden, automatisch auch stimmungsmäßig erfahren? Ist es für eine Gesellschaft nicht auch gefährlich, zu glauben, ohne Herzensbildung auskommen zu können? Woher kommt diese Abwehr gegenüber unseren Empfindungen oder gar gegenüber dem Gemüt insgesamt? – Arno Böhler (Universität Wien), Susanne Valerie Granzer (Universität für Musik und darstellende Kunst Wien), Evi Jägle und Christoph Müller gehen den Fragen nach dem Zusammenhang von „Mut, Unmut und Gemüt“ in ihrer Lecture-Performance „Rote Herzensangelegenheiten“ in Texten, Visuals und Klangskulpturen nach, die darauf warten, mit ihnen geteilt zu werden: In Affektionen des Denkens und Affektionen des Gemüts.
Die Lecture-Performance wurde im Rahmen des PEEK Projekts „Arts in Philosophy : Philosophy in the Arts. On The Significance of the *Heart* in Artistic-Research and Performance Philosophy. Sponsored by the Austrian Science Fund (FWF) Grant-DOI: 10.55776/AR822 entwickelt und im Volkstheater Wien, Rote Bar, am 17. April 2024 erstmals aufgeführt.
11:00-12:30 Uhr, Saal
Mit Katrin Wille (Universität Hildesheim)
Die Kunst der Clownerie und die Praxis des Philosophierens weisen eine starke Methodenverwandtschaft auf. Beide sind durch den Mut zur Verfremdung gekennzeichnet und praktizieren teilweise systematische Verfremdung und dies nicht zuletzt, um unseren Erfahrungen von Entfremdung auf die Spur zu kommen und diese zu transformieren. Philosophien zum Beispiel, die Kontingenz zum Ausgangspunkt des Nachdenkens nehmen, zeigen die Verflechtung von Regelmäßigem und Zufälligem wie die Gewordenheit von gewohnten Verhältnissen, die sich auch ganz anders hätten entwickeln können. Dieses Interesse an dem, was auch ganz anders sein könnte, teilen Philosophie und Clownerie und erforschen dies in verschiedenen Medien, sei es mit Konzentration auf das Denken oder mit Konzentration auf den Körper. Clownerie erforscht körperlich, was ganz anders sein könnte und probiert dies mit dem eigenen Körper, in der Interaktion mit Dingen oder in der Begegnung mit anderen aus. Dies kann lustig sein, muss es aber nicht. Genau wie das Philosophieren auch.
12:45-13:30 Uhr, Werkstattbühne
Mit Sonja Schierbaum (Universität Würzburg), Sascha Lemke (Hamburg), Marcia Lemke-Kern (Hamburg)
Wir alle machen Erfahrungen der Entfremdung – etwa als Heranwachsende von den Eltern, oder auch von uns selbst. Erfahrungen der Entfremdung, auf die für gewöhnlich neue Erfahrungen der Vertrautheit und Nähe folgen, sind Teil der Identitätsbildung. Der Wechsel von Entfremdung und Vertrautheit setzt aber die Möglichkeit der Erinnerung voraus. Was aber, wenn nicht nur die Erinnerung wie im Falle der Demenz nicht mehr zugänglich ist, sondern die Erfahrung der Entfremdung aufgrund der im Bereich der Pflege und des Medizinsystems herrschenden strukturellen Zwänge auch noch existentielle Ausmaße annimmt, so dass keine neue Erfahrung der Vertrautheit und Nähe mehr möglich ist? Etwa dann, wenn ein Demenzkranker mit Migrationshintergrund auf der Grundlage eines richterlichen Beschlusses, der die „Fremdgefährdung“ feststellt, vorübergehend in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie eingewiesen wird, sein aggressives Verhalten aber nachweislich durch eine falsche Medikation von Psychopharmaka verursacht wurde? Die Lecture Performance will zeigen, wie zumindest im Einzelfall, bedingt durch den kulturellen Hintergrund des Demenzkranken, die Gefahr einer existentiellen und irreparablen Erfahrung der Entfremdung vermieden werden kann, und welche Rolle Kultur dabei spielt. Die Kultur und Praxis des Zen-Buddhismus bietet eine Gegenwart, auch ohne Erinnerung, und eine Vertrautheit in der Erfahrung von extremer Entfremdung und Verstörung: Die Lektüre des „Spiegels des Buddhismus“ als Strategie des Überlebens und der Vermeidung einer irreversiblen, existentiellen Entfremdungserfahrung. (Musik/Technik/Video: Sascha Lemke; Performance: Marcia Lemke-Kern; Text/Performance/Diskussion: Sonja Schierbaum)
14:30-15:30 Uhr, Saal
Mit Johanna Kosch (Stuttgart)
Widerspruchsintoleranz oder Ambiguitätsintoleranz meint ein Verhalten, welches auf das simple Bedürfnis zurückzuführen ist, auf Komplexität und Uneindeutigkeit zu reagieren. Diese Reaktionen führen aber allzu oft dazu, dass einfache, einseitige Erklärungsmuster eher akzeptiert werden, bis hin zu simplen Gut-Böse-Schemata. Entsprechende mediale Bilder, Berichterstattungen und Populismus stärken diese ‚einfachen‘ Erklärungsmuster und Schemata und können unsere Wahrnehmung stereotypisieren. Die Gefahren dieses Verhaltens sind u.a. die Verbreitung von diffusen Ängsten, Verschwörungserzählungen und Vorurteilen. Widerspruchstoleranz, auf der anderen Seite, bedeutet: Mehrdeutigkeit aushalten. Aushalten, dass es Dinge gibt, die nicht eindeutig sind, die anders sind als vermutet, komplexer, ggf. mannigfaltig und auch unbequem. Diese Fähigkeit lässt sich erlernen. Sie erfordert kritische Selbstreflexion und die Einsicht, von seinem eigenen Standpunkt einmal abzurücken, die Perspektive zu ändern und Offenheit zu üben, Berührungsängste zu überwinden und vieles mehr. In diesem interaktiven Workshop werden wir einen Einblick bekommen in das genannte Begriffsspektrum von Widerspruchs(in)toleranz, Phänomene dazu in unserer Lebenswelt finden und gemeinsam üben, mit Mehr- und Uneindeutigkeit umzugehen.
14:30-15:30 Uhr, Werkstattbühne
Mit Christa Manz-Dewald (Leipzig) und Sieglinde Schneider (Köln)
Es ist nicht die Zeit des Schlafens und Träumens, es braucht Mut sich der Finsternis sehenden Auges hinzugeben. Ein Gefühl der Kontrolle wird uns dabei nicht verlassen, vielleicht auch ein Gefühl von Angst und Befremdlichkeit, sich auf diese Situation einzulassen. Vielleicht bietet Dunkelheit aber auch Geborgenheit; die äußerliche Wahrnehmung ist ausgeschaltet. Die beiden Performerinnen werden gemeinsam mit jeweils 10 Personen in bestimmter Abfolge einer Versuchsanordnung in absoluter Dunkelheit diesen Phänomenen nachspüren und im anschließenden Gespräch über die erlebten Befindlichkeiten diskutieren. Der Prozess kann individuell sofort abgebrochen werden, falls die Person sich unwohl fühlt. – Sich bewusst zu entfremden sollte ein sich auf sich selbst reflektierender Prozess sein, der uns überall begleiten darf, der uns Projektionen verschafft, die Denkweisen in Bewegung zu halten und sie gegebenenfalls zu verändern.
16:00-17:00 Uhr, Saal
Mit Robert Jende (München)
Das große Versprechen der Demokratie und ihre Verheißung, die Menschen könnten kollektiv über ihre Lebensbedingungen entscheiden, ist unglaubwürdig geworden. Das Prinzip der Repräsentation kann mit der Geschwindigkeit vereinnahmender Komplexitätssteigerungen und den Ansprüchen einer singularisierten Gesellschaft nicht Schritt halten. Entfremdung, Frust und Wut greifen um sich. Kann es im Dunkelgrau der „Demokratiedämmerung“ (Veith Selk) noch Licht und Farben geben? Eine Vervielfältigung und Dezentralisierung demokratischer Räume und Selbstorganisation ermöglicht Selbstwirksamkeitserfahrungen. Um Mut zu machen, präsentiert Robert Jende das Demokratiecafé, das die Beziehungen in der Nachbarschaft repariert. (https://www.demokratiecafe.de/)
16:00-17:00 Uhr, Werkstattbühne
Mit Arno Böhler, Marc Rölli, Sonja Schierbaum und Katrin Wille
17:15-18:00 Uhr, Werkstattbühne
Datum und Uhrzeit: Donnerstag, 3. Oktober 2024, 10:00 - 18:00 Uhr
Ort und Anschrift: LOFFT - DAS THEATER, Spinnereistraße 7, Halle 7, 04179 Leipzig
Eintritt: 15,00 Euro, ermäßigt 10,00 Euro, Soliticket 20,00 Euro (jeweils zzgl. VVK-Gebühr), Festivalticket gültig
Anfahrt: https://www.lofft.de/anfahrt